Lesbischer Schakal: „Anne Lister“ von Angela Steidele

Lila Hintergrund mit dunklen, dreieckigen Haarzonen, nach oben und unten zeigend angeordnet. Teil des Buchcovers von: Angela Steidele: Anne Lister. Eine erotische Biografie. (Bild: Matthes & Seitz Berlin)
Bild: Matthes & Seitz Berlin (Ausschnitt Buchcover)
In der Reihe „Durch!“ schreibt die Schriftstellerin Sofie Lichtenstein Kurzrezensionen zu Büchern, mit denen sie durch ist. In #1 der Reihe geht es um die Lebensgeschichte einer unglaublichen Person.

Ein Text von:

Vor rund einem Jahrzehnt – oder vielleicht ist es noch länger her – habe ich es mir zur Gewohnheit gemacht, zu jedem Buch, das ich gelesen habe, eine kleine Besprechung zu schreiben. Sie dient mir vor allem als Erinnerungshilfe, aber auch als Mittel, mir bewusst zu machen, was ich gelesen habe. 

Ich lese Bücher als Autorin und Privatperson, nicht als Feuilletonistin. Meine Kurzrezensionen, wie ich sie unbeholfen nenne, sind daher bloß ungeordnete Gedanken, die ich vor allem für meine Instagram-Follower aufschreibe. Hier auf vliestext finden sie nun auch ein Publikum.

Zuweilen fühlt sich dieser Akt des Nachdenkens und Schreibens wie eine Pflicht an, mit der ich einfach nur „durch“ sein möchte. Zum Glück aber nur zuweilen.

Alle Beiträge der Reihe Durch! finden sich hier.


#1 Angela Steidele: Anne Lister

Anne Lister war eine englische Landbesitzerin im präviktorianischen Zeitalter, die mit manischem Eifer Tagebuch schrieb. Alles musste aufgezeichnet werden. Sei es die Beschaffenheit ihres Stuhlgangs, die exakte Minutenzahl, die sie von Punkt A zu Punkt B benötigte, oder die Häufigkeit und Qualität ihrer Orgasmen. Hätte Lister Instagram nutzen können, hätte sie ihr Leben live gestreamt. 

„Eine Frau, die sich selbst am nächsten war.“

Am bemerkenswertesten dürfte sein, wie freimütig sie in ihrem Journal über ihr ausschweifendes Sexleben schrieb. Angela Steidele zeigt in ihrer sehr lustigen und lesenswerten Biografie, wer Anne Lister war: das weibliche Äquivalent zu Don Giovanni, ein lesbischer Schakal, der unzählige Frauen verführte, teilweise gleichzeitig, und das mit einem Kalkül und einer List, die einen so erschaudern lassen wie zum Lachen bringen; eine Frau, die sich selbst am nächsten war, und nicht vor der Ausbeutung anderer zurückschreckte; ein Mensch, der voller Ambivalenzen war und sich weder zur Verklärung noch zur Dämonisierung eignet. 

Ohne lesbischen Selbsthass

Es ist die unfassbare Lebensgeschichte einer unglaublichen Person, die man besser nicht persönlich gekannt hätte. Ihr Narzissmus sowie ihre Bereitschaft, alles zu tun, um ihre Ziele zu erreichen, kannten keine Grenzen, und sie machte in ihren Aufzeichnungen auch keinen Hehl daraus. Nicht selten blickte ich bei der Lektüre ungläubig auf die Seiten, um mich zu vergewissern, ob ich da gerade richtig gelesen habe. Ja, hatte ich.

Angela Steidele hat eine wunderbare Biografie über eine Frau geschrieben, die gewiss kein guter Mensch gewesen war und dennoch beeindruckt mit ihrem – heute würde man sagen – Sexpositivismus. Mit einem, der ohne jeden lesbischen Selbsthass auskommt zu einer Zeit, in der Frauen jegliches sexuelles Begehren abgesprochen wurde. ◆

Angela Steidele: Anne Lister. Eine erotische Biografie, Matthes & Seitz Berlin, 2023.

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Autorin

  • sie/ihr // ist Schriftstellerin, Lektorin und Herausgeberin // 2023 erschien ihr Buch Bügeln – Protokolle über geschlechtliche Handlungen

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