„Wir haben Würde und sind keine Bürde!“ – Eindrücke vom Stuttgarter Mad Pride Day

Mad-Pride-Demo in Stuttgart 2025. Jemand hält eine Schild hoch, auf dem in roter Schrift steht: Mehr als meine Diagnose.
Foto: vliestext
Der erste „Mad Pride Day“ Süddeutschlands fand kürzlich in Stuttgart statt. Es ging darum, auf die Situation von Menschen mit Psychiatrie-Erfahrung und psychischen Erkrankungen aufmerksam zu machen. Die Demo war ein Erfolg, erfuhr aber auch scharfe Kritik – wegen ihrer Progressivität.

Auf einen Klick: Die Psychiatrie überleben // „Macht verrückt, was euch verrückt macht!“ // Polizeigewalt und Leichtigkeit // Offener Brief übt Kritik // Ist es gewaltvoll, von „psychischen Erkrankungen“ zu sprechen? // Wie setzt man sich am besten für Marginalisierte ein? // Im Experimentierfeld

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Von Rechten war nichts zu sehen. Das ist wohl immer und ganz besonders dann eine gute Nachricht, wenn es Sorgen um einen Gegenprotest von Rechts gab, wie Thomas Rahmann im Interview berichtet. Er ist Referent beim Landesverband Psychiatrie-Erfahrener Baden-Württemberg e. V. und hat die Stuttgarter „Mad Pride Parade“ organisiert. 

Am 11. Oktober zog sie durch die dortige Innenstadt, im Rahmen des ersten „Mad Pride Day“ Süddeutschlands. Zu dem gehörten auch Vorveranstaltungen wie der „Wahl-Psych-O-Mat“, eine Podiumsdiskussion, bei der sich Landespolitiker*innen der Grünen, CDU, SPD, FDP und Linken Fragen von Psychiatrie-Erfahrenen stellten.

Die Psychiatrie überleben

Im Zentrum der Diskussion stand unter anderem die Frage, durch welche politischen Maßnahmen die Situation für Menschen mit psychischer Erkrankung verbessert werden soll. „Politiker*innen müssen selten Rede und Antwort stehen, wenn es um Themen Psychiatrie-Erfahrener geht“, sagt Rahmann.

In anderen Teilen Deutschlands gibt es schon seit 2013 Mad Pride Days, wenn auch nicht jedes Jahr, besonders in Berlin und Köln. Rahmann hat den Eindruck, dass „der Norden in Deutschland tendenziell fitter ist, was die Psychiatrie-Erfahrenen-Bewegung angeht.“

Den weltweit ersten Mad Pride Day gab es 1993 in Toronto, damals noch unter dem Namen „Psychiatric Survivor Pride Day“ („Tag des Stolzes der Psychiatrie-Überlebenden“).

„Macht verrückt, was euch verrückt macht!“

Traditionell geht es bei den Veranstaltungen um die Sichtbarmachung von Menschen mit Psychiatrie-Erfahrung, um harte, widerständige Kritik am System Psychiatrie und an den soziopolitischen Verhältnissen, die dieses System, das Betroffene teils als menschenfeindlich wahrnehmen und abschaffen wollen, möglich machen.

Es geht auch darum, wie bei anderen Bewegungen mit „Pride“ im Titel, stolz auf etwas zu sein, nämlich auf die gesellschaftliche Zuschreibung, „verrückt“ („mad“) zu sein. „Mad ist menschlich“, hieß es auf der Stuttgarter Parade. Je nach Schätzung nahmen 200 bis 300 Menschen an ihr teil.

„Einige brauchen für Wut und Enttäuschung Raum, andere eher für positive Bestärkung.“

In Stuttgart sollte auch Raum für weitere Themen sein, etwa um über Diskriminierung wegen psychischer Erkrankungen am Arbeitsplatz zu sprechen oder Anerkennung für eigene Krisenerfahrungen zu bekommen. „Da ist die Bedürfnislage bei Psychiatrie-Erfahrenen sehr verschieden. Einige brauchen für Wut und Enttäuschung Raum, andere eher für positive Bestärkung“, sagt Rahmann. Was Teilnehmende an Themen mitbrachten, habe weitestgehend Raum gehabt. Finanziell gefördert wurde die Veranstaltung von der Aktion Mensch und der AOK.

Für Aufmerksamkeit auf ihrer Strecke rund um die Königstraße, Stuttgarts zentraler Einkaufsmeile, sorgten auch Ausrufe wie „Macht verrückt, was euch verrückt macht!“, „Wir haben Würde und sind keine Bürde!“ oder „Mit blindem Gehorsam werden wir nicht dienen, denn wir sind Menschen und keine Maschinen!“

Teilnehmer*innen der Stuttgarter Mad Pride Parade 2025. Sie tragen Demoschilder, im Hintergrund der Musikwagen.
Foto: vliestext

Polizeigewalt und Leichtigkeit

Gut in dieses Bild passt, dass das englische „mad“ auch „wütend“ bedeuten kann. Psychiatrie-Erfahrene empfinden oft große Wut über das, was ihnen in Psychiatrien widerfahren ist. Und Wut darüber, wie diskriminierend und gewaltvoll Menschen in psychischen Krisen oder mit psychischen Erkrankungen von der Gesellschaft zum Teil behandelt werden.

Sie haben wohl allen Grund dazu. Das wurde in den zahlreichen (teils spontanen) Redebeiträgen deutlich, die es während der Parade und auf der Abschlusskundgebung vor Stuttgarts Rathaus gab. Eindrücklich berichteten Redner*innen etwa von Gewalt in Psychiatrien, von Zwangseinweisungen und Bettfixierungen, von Kontakten mit der Polizei, die Rippenbrüche und um ein Haar auch den Erstickungstod im Polizeiauto nach sich gezogen hätten.

Referiert wurde eine Zahl des Kriminologen Thomas Feltes, wonach sich 75 Prozent der Menschen, die bei Polizeieinsätzen sterben, in psychischen Ausnahmesituationen befänden. Ebenso Thema war das Register für psychisch erkrankte Menschen, über das mancherorts leider nachgedacht wird.

Eine Frau aus der Slowakei sprach von ihrer Psychose, die im Zusammenhang mit Migrationserfahrungen stehe und durch den Aufenthalt in einer deutschen Psychiatrie schlimmer geworden sei. Psychische Erkrankungen seien die einzigen Erkrankungen, so eine andere Rednerin, bei der es keine freie Klinikwahl gäbe (im Falle von Zwangseinweisungen).

Dass das System Psychiatrie dringend verbessert werden müsse, war eine mehrmals gehörte Forderung. Auch Jennifer Langer, Beauftragte der Stadt Stuttgart für die Belange von Menschen mit Behinderung, sagte in ihrer Rede, dass ein Umdenken in der psychiatrischen Behandlung nötig sei.

„Trotz thematischer Schwere und der Wut auf die Verhältnisse war der Stuttgarter Mad Pride Day nicht zuletzt eine fröhliche Veranstaltung.“

Leichtigkeit hatte aber ebenso Platz beim Stuttgarter Mad Pride Day. Jemand trug ein Gedicht vor, die Band Glüxkinder – sie ist Botschafterin der Deutschen Depressionsliga – trat auf, Leute tanzten dazu und eine Liedermacherin sang „We Shall Overcome“, ein Lied der US-Bürgerrechtsbewegung.

Trotz thematischer Schwere und der Wut auf die Verhältnisse war der Stuttgarter Mad Pride Day nicht zuletzt eine fröhliche Veranstaltung. Organisator Rahmann dürfte das ähnlich sehen: „Die Stimmung wurde durch traurige Reden nicht trist, durch wütende Reden nicht immer aufgekratzter, durch zuversichtliche Reden nicht oberflächlich.“

Offener Brief übt Kritik

Wütend scheint die Stimmung auch an anderer Stelle gewesen zu sein. Kurz vor der Demo erschien online ein Offener Brief, der den Stuttgarter Mad Pride Day in scharfer Sprache kritisiert und dessen Ansatz rigoros ablehnt. Von einer „Vereinnahmung“ und „Entstellung“ der Mad-Pride-Bewegung durch die Veranstalter ist darin die Rede.

Man bediene sich „psychiatrischer Sprache“, nutze „psychiatrische Symbolik“ und verstärke nicht „die Stimme der Unterdrücktesten“, sondern die der „Priviligiertesten“ unter den Psychiatrie-Erfahrenen. Besonders letzteren Vorwurf entkräftete die Demo allerdings gleich, durch einen symbolischen Abschnitt im Demozug, der allen gewidmet war, die nicht teilnehmen konnten, weil sie zum Beispiel in einer Psychiatrie zwangseingewiesen sind.

Grundsätzlich müssten, so der Brief, Mad Pride Days den Widerstand der als radikal verstandenen Mad-Pride-Bewegung „ehren – nicht ihn weichspülen.“ Mad Pride sei kein Label für Wohlfühlkampagnen, es gehe nicht um Bewusstsein für „psychische Gesundheit.“

Ein Ordner in weißer Weste beim Stuttgarter Mad Pride Day 2025, von hinten zu sehen. Vor ihm Demonstrierende.
Foto: vliestext

Verfasst wurde das Schreiben von drei Aktivist*innen, die dem Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener e. V. zuzurechnen sind. Der Bundesverband hat sich vom baden-württembergischen Landesverband vor Jahren getrennt, laut Wikipedia aufgrund „inhaltlicher und personeller Differenzen.“ Rausgeworfen habe man den Landesverband, sagt Thomas Rahmann, wegen einer „angeblich zu großen Nähe zu psychiatrischen Institutionen.“

Ist es gewaltvoll, von „psychischen Erkrankungen“ zu sprechen?

Und genau das ist einer der Vorwürfe, die auch jetzt im Raum stehen. Man nutze die „Sprache und Konzepte der Psychiatrie“, etwa wenn, wie auf der Website zur Veranstaltung, von „psychischen Erkrankungen“ die Rede ist. „Die Gefühle, Gedanken, Wahrnehmungen und Verhaltensweisen von Menschen als ‚krank‘ zu bezeichnen ist Teil der Abwertung durch die Psychiatrie und in sich diskriminierend“, heißt es im Brief.

Das System Psychiatrie sei strukturell gewaltvoll und „bereits der Anspruch, einer gesellschaftlichen Vorstellung von ‚psychisch gesund‘ entsprechen zu sollen, ist Gewalt“. Dass der Veranstalter des Stuttgarter Mad Pride Day auch in psychiatrische Kliniken gegangen ist, um über den Aktionstag zu informieren und dort mit Fachpersonal ins Gespräch kam, dürfte gleichsam ein No-Go für die Verfasser*innen des Briefes sein.

Dass jenes Personal allerdings manche Kritik am System Psychiatrie teilt, wie Rahmann mit Blick auf Zwangsbehandlungen berichtet, unterläuft das Feindbild, das mitunter von Menschen gezeichnet wird, die in Psychiatrien arbeiten.

Wie setzt man sich am besten für Marginalisierte ein?

Der Konflikt – aufgrund seiner Vielschichtigkeit kann er hier nur angerissen sein – lässt sich vielleicht als einer zwischen Orthodoxie und Progressivität begreifen. Gestritten wird um die auch in anderen Zusammenhängen von Diskriminierung wichtige Frage, auf welche Art man sich für Interessen marginalisierter Menschen einsetzen sollte.

Wie lassen sich bestehende Verhältnisse und Missstände am besten ändern und beseitigen – durch eher kompromisslose Widerständigkeit oder konstruktive Gesprächsbereitschaft? Damit verwoben ist die Frage, ob man einen Namen benutzen darf (hier: Mad Pride), wenn man anders vorgeht, als es bisher für Aktionen unter dem Namen meist üblich war. Leicht zu beantworten dürfte das nicht sein.

Für Thomas Rahmann ist es eine „offene Frage, wie man viele Menschen heutzutage mit Psychiatrie-Erfahrenen-Themen erreicht, sich Psychiatrie-Erfahrene besser vernetzen und organisieren.“ Die Gefahr, dass dabei die Bewegung verwässert oder verfälscht werden könnte, sei ernst zu nehmen.

Gleichzeitigkeiten seien aber möglich: „Für mich war es eine besonders tolle Erfahrung, dass radikale Kritik und Erzählungen über schwere Erlebnisse einhergehen können mit einer so tollen Stimmung.“

Im Experimentierfeld

Im Nachgang seien einige Menschen auf ihn zugekommen und hätten beschrieben, dass „der Aktionstag etwas mit ihnen gemacht hat, das sich langfristig anfühlt.“ Ihm gehe es darum, dass sich „Menschen mit Psychiatrie-Erfahrung das Selbstbewusstsein, das ihnen durch Diskriminierung genommen wurde, wieder zurückholen.“ Wie sich das am besten erreichen lässt, ist für Rahmann ein offenes Experimentierfeld.

Für den Stuttgarter Mad Pride Day konstatiert er: „Der erste Versuch in Stuttgart, würde ich sagen, ist geglückt.“ Wer dabei war, dürfte geneigt sein, ihm zuzustimmen. ◆

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