Auf einen Klick: „WählerInnen sind ja nicht doof“ // Sprachliche Milde und informationelle Auslese // Denkzettel vom Souverän // Links und rechts um die Ohren // Sanewashing macht Unvernunft unsichtbar // Doppelter Waschgang: Vernünftige wählen Vernünftige
Texte wie dieser fangen manchmal so an: „Wer kennt’s nicht?“ Damit wird eine Alltagsnähe des Themas behauptet, was Leser*innen zum Weiterlesen bringen soll; sie könnten ja persönlich betroffen und damit interessiert sein. Mitunter steht die Phrase dort, weil Autor*innen nichts Besseres einfiel. Vielleicht ist das hier auch so. Ich glaube aber, dass viele, die jetzt diese Zeilen lesen, „es“ tatsächlich kennen. Schließlich lesen sie, sei gemutmaßt, gern und viel.
Also, wer kennt’s nicht: Du liest einen bis dahin bekömmlichen Text und plötzlich ploppt darin etwas auf, das den ganzen Text – und je nach Stimmung auch dich – aushebelt. Du ärgerst dich, willst gar nicht mehr weiterlesen. Deine Augen rollen so sehr, dass es wehtut. So sehr, dass du meinst, einen Text darüber schreiben zu müssen. Diesen.
„WählerInnen sind ja nicht doof“
So ging es mir neulich bei einem medienkritischen Kommentar in der wochentaz. Unter dem Titel „Die SPD und die K-Frage: Ist das noch Journalismus oder schon Pferdewette?“ (hier online) schreibt Kersten Augustin mit Blick auf die vor einiger Zeit medial bespielte Frage, ob Boris Pistorius für die SPD ein besserer Kanzlerkandidat als Olaf Scholz wäre: „Ein Wechsel des Kandidaten wäre schnell verpufft, WählerInnen sind ja nicht doof.“ Gemeint ist damit wohl, dass Wähler*innen solche Manöver schnell durchschauen, dass sie sich nicht so leicht hinters Licht führen lassen.
„Jemandes Sprechen und Handeln wird seriöser gemacht, als es tatsächlich ist, um darüber entlang journalistisch-sachlicher Gepflogenheiten und bürgerlicher Maßstäbe berichten zu können.“
Grundsätzlich ist Augustins Text zuzustimmen. Der Autor kritisiert Teile eines Medienbetriebs, die substanzlos Themen hochschreiben, um damit Geld zu verdienen. Eine nötige Kritik. Allerdings: Eine Aussage wie „Wähler*innen sind ja nicht doof“, zumal lapidar eingeworfen, gibt dem Text eine Delle. Eine gehörige. Auch wenn es Augustin nicht beabsichtigt haben mag, betreibt die Behauptung in gewisser Weise das, was heute oft mit dem englischen Begriff „Sanewashing“ bezeichnet wird.
Der Begriff trägt Spuren von Ableismus in sich, ist hier aber nicht so zu verstehen: Es geht nicht um Fragen von Behinderung oder psychischer Gesundheit („insane“, das Gegenteil von „sane“, kann auf Deutsch u. a. „verrückt“ bedeuten) sondern es geht um Vernunft.
Sprachliche Milde und informationelle Auslese
Als wörtliche Übersetzung mag sich dementsprechend „vernünftigwaschen“ anbieten. Das meint, analog zum etablierten Begriff „Greenwashing“, jemanden als vernünftiger darzustellen, als er*sie eigentlich ist. Jemand wird medial weichgespült, die Radikalität und Unvernunft der Person werden verschleiert und normalisiert.
Es ließe sich vielleicht auch „Seriösierung“ nennen: Jemandes Sprechen und Handeln wird seriöser gemacht, als es tatsächlich ist, um darüber entlang journalistisch-sachlicher Gepflogenheiten und bürgerlicher Maßstäbe berichten zu können. Es ist eine Form von Berichtbarmachung, die auf sprachlicher Milde und informationeller Auslese (was wird erwähnt, was nicht?) basiert.
Das gilt jedoch nur dann, wenn Sanewashing nicht ein, wie manche zu glauben scheinen, unvermeidbarer Nebeneffekt journalistischer Arbeit ist, sondern mit voller Absicht passiert. Leider lässt sich beim heutigen Medienhandeln nicht ausschließen, und ließ sich wohl noch nie, dass ein Interesse an gezieltem Sanewashing bestimmter Akteur*innen besteht. Sanewashing wird dann zum Instrument politischer Parteinahme seitens Medien. Meist profitieren Rechte davon.
„Die sogenannte Wählerschelte, also das öffentliche Kritisieren von Wahlverhalten, steht in keinem guten Ruf. Es bräuchte sie viel öfter.“
Oft zielt der Begriff auf die verharmlosende und verzerrende Berichterstattung ab, die Medien Regierenden wie Donald Trump angedeihen lassen. Über das Phänomen schreibt der Literaturwissenschaftler und Kulturjournalist Johannes Franzen in einem Beitrag für Übermedien, mit Blick auf einen Text in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung:
„Trumps zielloses, lügenhaftes und manisch aggressives Gefasel scheint durch die lakonische Paraphrase, den vornehmen Konjunktiv oder putzige Adjektive […] nicht ausreichend erfasst. Die Konventionen des niveauvollen journalistischen Erzählens, die auf Neutralität, Objektivität und Zurückhaltung angewiesen sind, suggerieren eine Normalität, die keine ist.“
Denkzettel vom Souverän
Man kann allerdings auch Regierte (Wähler*innen) sanewashen. Das passiert ständig und ist ein großes Problem, weil es diejenigen, die durch ihr Wahlverhalten mitverantwortlich für eklatante Missstände sind, entschuldigt und nobilitiert. Als hätten Wähler*innen (gern auch „der Wähler“) immer recht. Als sei alles, was sich Menschen demokratisch herbeiwählen dürfen, gut und richtig. Als sei es immer rational und wohlüberlegt – vernünftig eben.
Im Subtext schwingt dann oft ein „Tja“ mit: Tja, hat der Wähler halt so entschieden, wird er sich schon etwas dabei gedacht haben, kann man nichts machen. Schließlich ist er der, demokratietheoretisch gesprochen, „Souverän“. Das Wort „Denkzettel“ fällt dann auch gern. Die sogenannte Wählerschelte, also das öffentliche Kritisieren von Wahlverhalten, steht in keinem guten Ruf. Es bräuchte sie viel öfter.
Links und rechts um die Ohren
Als Redakteur einer Zeitung steht Kersten Augustin vor dem Problem, dass zwischen Wähler*innen und Leser*innen eine große Schnittmenge besteht. Gerade Leser*innen von Medien wie taz und wochentaz dürften in großer Mehrzahl auch Wähler*innen sein und solchen vorzuhalten, doof zu sein, leisten sich Medien eher selten. Das ist verständlich, will man keine Abos verlieren, gleichzeitig aber auch schade.
Verdient hätten es nämlich viele Wähler*innen. Weltweit. Ihre Wahlzettel möchte man ihnen links und rechts um die Ohren hauen, angesichts der weltgefährdenden Ungeheuerlichkeiten, die sie wieder einmal gewählt und mit dem Siegel demokratischer Legitimation versehen haben.
Sanewashing macht Unvernunft unsichtbar
Die erneute Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten liefert für diese Gefühlslage allerbestes Anschauungsmaterial. Da wurde jemand gewählt, und mit ihm eine Meute faschistischer, christlich-nationalistischer Schergen, die nicht nur ideell, sondern auch materiell die Lebenswirklichkeiten der allermeisten seiner Wähler*innen verschlechtern werden.
Die mit Trump verbundenen Planer des lange vor der Wahl bekannten „Project 2025“ haben viel vor, zum Beispiel die Aushöhlung des US-Arbeitsrechts. Wirtschaftlich profitieren werden davon vor allem Reiche und Überreiche, nicht das Gros der Menschen, die für Trump gestimmt haben.
Und das nur, weil zu viele US-Wähler*innen keine Frau, Kamala Harris, wählen wollten, zumal keine Schwarze Frau? Weil Misogynie und Rassismus, oft wortreich zur Schau gestellt, für sie wichtiger als materielles Wohlergehen sind? Kann etwas „vernünftig“ sein, das eigenen materiellen Kerninteressen widerspricht?
Sicherlich, Misogynie und Rassismus sind auch Interessen, und nicht zuletzt solche, die wirtschaftliche Vorteile mit sich bringen können (Diskriminierung als Technik der Konkurrenzvermeidung), aber hebt das alle anderen Nachteile auf? Sollte das wirklich „vernünftig“ sein?
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Es sieht mehr nach einem Schuss ins eigene Knie aus, nicht nach einem versehentlichen, sondern nach einem mit Ansage. Das ist hochgradig unvernüftig, muss medial viel mehr zur Sprache kommen und darf nicht durch Sanewashing unsichtbar gemacht werden.
Doppelter Waschgang: Vernünftige wählen Vernünftige
Das gilt natürlich auch für Deutschland. Deutsche, die AfD wählen, tun im Grunde nichts anderes als US-Bürger*innen, die Trump wählen. Auch deutsche Wähler*innen genießen mediales Sanewashing. Die AfD befriedigt zwar rassistische und völkisch-nationalistische Gelüste, materiell von ihr profitieren würden aber, ähnlich wie vom Trump-Regime, vor allem Wohlhabende.
Für Regierende liegt im Sanewashing ihrer Wähler*innen sogar doppelter Nutzen: Indem Wählende vernünftiggewaschen werden, werden indirekt auch Gewählte vernünftiggewaschen, ein weiteres Mal. Vernünftige wählen Vernünftige – so die mögliche Lesart. Es ist gewissermaßen ein doppelter Waschgang.
Manche Wähler*innen sind also, um auf den Text in der wochentaz zurückzukommen, durchaus doof. Morgen, am Tag der Bundestagswahl, haben aber zumindest deutsche Wähler*innen wieder einmal die Chance, nicht doof zu sein. Ob es in Zukunft noch viele solcher Chancen geben wird, darf als unsicher gelten. ◆
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