Sind wir nicht alle ein bisschen Jella? „Die schönste Version“ von Ruth-Maria Thomas

In einem Streifen angedeutetes Gesicht auf rosa Grund. Ausschnitt des Buchcovers von „Die schönste Version“ von Ruth-Maria Thomas. (Bild: Rowohlt)
Bild: Rowohlt (Ausschnitt Buchcover)
In der Reihe „Durch!“ schreibt die Schriftstellerin Sofie Lichtenstein Kurzrezensionen zu Büchern, mit denen sie durch ist. In #7 der Reihe geht es um die Generation Y und das ideale Leben.

Ein Text von:

Vor rund einem Jahrzehnt – oder vielleicht ist es noch länger her – habe ich es mir zur Gewohnheit gemacht, zu jedem Buch, das ich gelesen habe, eine kleine Besprechung zu schreiben. Sie dient mir vor allem als Erinnerungshilfe, aber auch als Mittel, mir bewusst zu machen, was ich gelesen habe. 

Ich lese Bücher als Autorin und Privatperson, nicht als Feuilletonistin. Meine Kurzrezensionen, wie ich sie unbeholfen nenne, sind daher bloß ungeordnete Gedanken, die ich vor allem für meine Instagram-Follower aufschreibe. Hier auf vliestext finden sie nun auch ein Publikum.

Zuweilen fühlt sich dieser Akt des Nachdenkens und Schreibens wie eine Pflicht an, mit der ich einfach nur „durch“ sein möchte. Zum Glück aber nur zuweilen.

Alle Beiträge der Reihe Durch! finden sich hier.


#7 Ruth-Maria Thomas: Die schönste Version

Es gibt Momente der Selbsterkenntnis, in denen wir zur Einsicht gelangen, dass wir die schönste oder auch die schlechteste Version unserer selbst sind. Nichts fordert beide Seiten so sehr heraus wie Beziehungen zu anderen Menschen. Womöglich müsste man sogar so weit gehen, zu sagen, dass ohne Beziehungen das Schöne und Hässliche gar keine Möglichkeit hätte, sich zu offenbaren.

Mit Die schönste Version hat Ruth-Maria Thomas einen Roman geschrieben, in dem nicht nur das Aufwachsen der Ich-Erzählerin Jella nacherzählt wird, die der sogenannten Generation Y angehört. Thomas verhandelt auch die Frage, wie die generationalen Umstände, unter denen aus dem Mädchen eine Frau geworden ist, ihre Vorstellungen eines idealen Lebens geprägt haben. Wie konnte es passieren, dass Jella von ihrem Freund beinahe erwürgt wurde?

Geschah es tatsächlich unerwartet oder gibt es in ihrer Biografie bereits eine Kontinuität der Gewalt? Und inwieweit trägt sie Schuld an der Gewalt, die ihr angetan wurde? Denn – und das macht das Buch in meinen Augen stark – Jella ist mitnichten ein Opfer, wie viele es am liebsten sehen wollen: verängstigt, erduldend, unschuldig und rein. Jella ist ambivalent; Jella verliert die Contenance; Jella wird hässlich; Jella ist wehrhaft.

Schwer totzukriegen

Zum Leidwesen der Leser*innen, denn wer ist nicht versucht, zu denken: Na ja, so ganz unschuldig ist sie ja nicht. Ist Jella unschuldig? Nein, im allerbesten Sinne. Und hat sie Schuld daran, dass ihr Freund sie gewürgt hat? Ebenfalls ein klares Nein. Indem Thomas kein idealisiertes Opfer zu Wort kommen lässt, entlarvt sie patriarchales Denken, dem wir immer wieder verfallen und das nur schwer totzukriegen ist.

„Über die Wege, die man einschlägt – und seien sie noch so fürchterlich –, um Liebe zu erfahren.“

Das Buch lässt sich allerdings nicht nur vor dem Hintergrund feministischer Diskurse lesen. Es erzählt auch viel über die basale Sehnsucht, mit Haut und Haar angenommen und geliebt zu werden; über die Wege, die man einschlägt – und seien sie noch so fürchterlich –, um Liebe zu erfahren; und was man für die Liebe erträgt, selbst wenn die einzige, von der man glaubt, sie bekommen zu können, einen zerstört. Wir alle sind ein Stück Jella und Jella ist ein Stück wir alle.

Zwischen treffend und klischiert

Werfen wir aber noch einen kurzen Blick auf die Sprache: Auffallend ist vor allem Thomas’ Affinität für Anaphern (Wiederholung eines Wortes oder einer Phrase am Satzanfang), die sie gar zu gerne für deskriptive Passagen verwendet. Beschrieben wird häufig in Schlaglichtern. Der Kniff verbraucht sich zwar auf die Dauer, hält einen – insbesondere diejenigen, die ausschweifenden Beschreibungen nichts abgewinnen können – beim Lesen jedoch bei der Stange.

Dennoch: Mit den Beschreibungen ist es so eine Sache. Sie changieren immer wieder zwischen treffend und arg klischiert. Und am Kitsch, rhetorische Manierismen inbegriffen, wird auch nicht gespart. Thomas’ schriftstellerische Stärke sehe ich vor allem in den Streitdialogen, die so organisch daherkommen, wie ich es nur selten lese. Ich glaube den Protagonist*innen jedes Wort – vermutlich auch deshalb, weil die Autorin ihre Figuren einfach sprechen lässt.

Thomas hat ein solides Debüt hingelegt, das zwar kaum verhehlen kann, ein Erstlingswerk zu sein, bei vielen Leser*innen aber nachhallen wird. ◆

Ruth-Maria Thomas: Die schönste Version, Rowohlt, Hamburg, 2024.

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Autorin

  • sie/ihr // ist Schriftstellerin, Lektorin und Herausgeberin // 2023 erschien ihr Buch Bügeln – Protokolle über geschlechtliche Handlungen

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