Düster und heiter: „Seltsame Sally Diamond“ von Liz Nugent

Oberkörper einer Frau in schwarzem Kleid mit weißem Spitzenkragen. Ausschnitt des Buchcovers von „Seltsame Sally Diamond“ von Liz Nugent. (Bild: Steidl)
Bild: Steidl (Ausschnitt Buchcover)
In der Reihe „Durch!“ schreibt die Schriftstellerin Sofie Lichtenstein Kurzrezensionen zu Büchern, mit denen sie durch ist. In #8 der Reihe geht es um den Umgang mit Traumata nach einer Kindesentführung.

Ein Text von:

Vor rund einem Jahrzehnt – oder vielleicht ist es noch länger her – habe ich es mir zur Gewohnheit gemacht, zu jedem Buch, das ich gelesen habe, eine kleine Besprechung zu schreiben. Sie dient mir vor allem als Erinnerungshilfe, aber auch als Mittel, mir bewusst zu machen, was ich gelesen habe. 

Ich lese Bücher als Autorin und Privatperson, nicht als Feuilletonistin. Meine Kurzrezensionen, wie ich sie unbeholfen nenne, sind daher bloß ungeordnete Gedanken, die ich vor allem für meine Instagram-Follower aufschreibe. Hier auf vliestext finden sie nun auch ein Publikum.

Zuweilen fühlt sich dieser Akt des Nachdenkens und Schreibens wie eine Pflicht an, mit der ich einfach nur „durch“ sein möchte. Zum Glück aber nur zuweilen.

Alle Beiträge der Reihe Durch! finden sich hier.


#8 Liz Nugent: Seltsame Sally Diamond

Wie vermutlich die meisten in meiner Literatur-Bubble lese ich keine Krimis. Das hat weniger damit zu tun, dass ich Vorbehalte gegenüber Genreliteratur hätte, als damit, dass mich Crime-Stories in der Regel nicht interessieren. Dass ich mir Seltsame Sally Diamond von Liz Nugent dennoch zugelegt habe, ist vor allem einer Rezension im Spiegel zu verdanken, die mich auf den Titel aufmerksam gemacht hat. Dreh- und Angelpunkt der Geschichte ist, ganz genretypisch, ein Kriminalfall.

Der Zahnarzt Conor Geary entführt ein kleines Mädchen und hält es mehr als zwanzig Jahre lang gefangen. Aus den sexuellen Gewaltakten, die er begeht, gehen zwei Kinder und zugleich die Erzählstimmen des Romans hervor, zum einen die titelgebende Sally Diamond, zum anderen ihr Bruder. Sally, die im Alter von sechs Jahren aus dem Martyrium befreit und von einem Psychiater*innen-Paar adoptiert wird, kann sich an die Zeit in Gefangenschaft nicht erinnern. Die frühkindlichen Erlebnisse haben sie jedoch schwer traumatisiert.

Bis es eskaliert

Obwohl sie Anfang 40 ist, scheint sie innerlich im Stadium eines Kindes verblieben zu sein. Die Welt kommt ihr so fremd und seltsam vor wie sie selbst der Welt. Unfähig, Konnotationen und Ironie zu verstehen, und in jahrzehntelanger Isolation lebend versucht sie nach dem Tod ihres Adoptivvaters, Stück für Stück Fuß zu fassen in der ihr unvertrauten und unverständlichen Welt. Dadurch stößt sie ihren eigenen Heilungsprozess an. Sie öffnet sich Menschen, schließt Freundschaften, macht eine Therapie, findet einen Job.

Parallel dazu wird die Geschichte ihres älteren Bruders Peter erzählt, der die Zeit der Gefangenschaft bewusst miterlebt hat und nacherzählt. Anders als Sally ist er mit seinem gewalttätigen Vater aufgewachsen und nach Neuseeland geflüchtet. Wie auch seine Schwester wächst Peter in völliger Isolation auf. In kindlicher Naivität glorifiziert er seinen Vater, die einzige Bezugsperson in seinem Leben, bis die Situation eskaliert.

Peinigende Isolation

In Seltsame Sally Diamond geht es allen voran um zwei Opfer, die versuchen, vor dem Hintergrund des erlebten Grauens und der Traumata, die sie davongetragen haben, ein lebenswertes Leben zu führen. Ebenso geht es um die Irreversibilität von Verletzungen. Sally, die durch die Adoption dem Verlies entkommen konnte, hat hierbei bessere Voraussetzungen als ihr Bruder, der beim Vater und mithin in peinigender Isolation aufwachsen musste.

„Auch heiter, komisch und grotesk.“

Das macht sich nicht nur in den unterschiedlichen Ton-und Stimmungslagen der beiden Perspektiven bemerkbar, sondern auch in der Art und Weise, wie beide versuchen, ihrem Trauma zu begegnen. Dadurch ist das Buch trotz der Schwere der Thematik nicht ausschließlich düster, sondern an zahlreichen Stellen auch heiter, komisch und grotesk.

Ein Pageturner

Hinzu kommt, dass Liz Nugent ihr Handwerk versteht, wenn es darum geht, Spannung über Dialoge – das Buch besteht zu zwei Dritteln daraus – zu erzeugen. Auf dem Klappentext wird der Roman als Pageturner beworben, was ich auf Anhieb bestätigen kann. Ich habe das Buch sehr gerne gelesen.

Enttäuscht hat lediglich das Ende, das mich unter anderem wegen seiner, so viel sei gespoilert, Abruptheit nicht überzeugte. Wurde sich über weite Strecken viel Zeit mit dem Erzählen und der Entwicklung der Figuren gelassen, wird auf den letzten Seiten alles schlagartig über den Haufen geworfen. Dennoch: Ich kann den Roman empfehlen, nicht nur denjenigen mit Affinität zu Krimis. ◆

Liz Nugent: Seltsame Sally Diamond (aus dem Englischen von Kathrin Razum), Steidl, Göttingen, 2024.

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Autorin

  • sie/ihr // ist Schriftstellerin, Lektorin und Herausgeberin // 2023 erschien ihr Buch Bügeln – Protokolle über geschlechtliche Handlungen

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