Schwere Kost: „Mein kleines Prachttier“ von Marieke Lucas Rijneveld

Farbige Zeichnung eines Schwans, der seinen Kopf auf den Hals legt und Betrachter*innen anschaut. Teil des Buchcovers (englische Ausgabe) von: „Mein kleines Prachttier“ von Marieke Lucas Rijneveld. (Bild: Faber & Faber)
Bild: Faber & Faber (Ausschnitt Buchcover der englischen Übersetzung)
In der Reihe „Durch!“ schreibt die Schriftstellerin Sofie Lichtenstein Kurzrezensionen zu Büchern, mit denen sie durch ist. In #6 der Reihe geht es um Pädokriminalität.

Ein Text von:

Vor rund einem Jahrzehnt – oder vielleicht ist es noch länger her – habe ich es mir zur Gewohnheit gemacht, zu jedem Buch, das ich gelesen habe, eine kleine Besprechung zu schreiben. Sie dient mir vor allem als Erinnerungshilfe, aber auch als Mittel, mir bewusst zu machen, was ich gelesen habe. 

Ich lese Bücher als Autorin und Privatperson, nicht als Feuilletonistin. Meine Kurzrezensionen, wie ich sie unbeholfen nenne, sind daher bloß ungeordnete Gedanken, die ich vor allem für meine Instagram-Follower aufschreibe. Hier auf vliestext finden sie nun auch ein Publikum.

Zuweilen fühlt sich dieser Akt des Nachdenkens und Schreibens wie eine Pflicht an, mit der ich einfach nur „durch“ sein möchte. Zum Glück aber nur zuweilen.

Alle Beiträge der Reihe Durch! finden sich hier.


#6 Marieke Lucas Rijneveld: Mein kleines Prachttier

In Mein kleines Prachttier beschreibt Marike Lucas Rijneveld aus der Sicht des Täters, wie er ein Kind systematisch manipuliert und gefügig macht. Formal ist das Buch durchweg gelungen; die Obsession des Erzählers wird auf Basis einer atemlosen Sprache (Konjunktionen statt Punkte) und vieler Konjunktive sehr anschaulich illustriert.

Über Pädokriminalität einen literarischen Text zu schreiben, zumal einen, der nicht nur ästhetisch überzeugend ist, sondern auch verantwortungsvoll mit dem Thema umgeht, ist schwierig und etwas, woran sich viele Schriftsteller*innen nicht wagen.

Mitreißend und verwerflich

So entsteht eine suggestive Poesie, die Leser*innen mitreißt, obwohl es sich nicht richtig, wenn nicht sogar verwerflich anfühlt. Auch inhaltlich findet das Buch eine gute Balance zwischen der Lust, die der Täter auf das Kind projiziert, und den hellen Momenten, in denen sich der Täter über seine Projektion bewusst wird.

Das ist übrigens etwas, was der Figur Humbert Humbert in Vladimir Nabokovs ähnlich gelagertem, als Klassiker der Weltliteratur geltenden Roman Lolita völlig abgeht. Dort wird das unzuverlässige Erzählen derart überstrapaziert, dass einem die Lesart, das Kind hätte den Täter verführt, nachgerade aufgedrängt wird.

Mein kleines Prachttier ist schwere Kost. Ein Buch, das zu lesen starke Nerven erfordert, aber die Lektüre unbedingt wert ist. ◆

Marieke Lucas Rijneveld: Mein kleines Prachttier (aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen), Suhrkamp, Berlin, 2021.

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Autorin

  • sie/ihr // ist Schriftstellerin, Lektorin und Herausgeberin // 2023 erschien ihr Buch Bügeln – Protokolle über geschlechtliche Handlungen

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