Krankenpfleger mit Macht: „Ungefähre Tage“ von Annika Domainko

Kinn, Hals und Schulterpartie einer Frau vor dunklem Hintergrund. Teil des Buchcovers von: „Ungefähre Tage“ von Annika Domainko. (Bild: C. H. Beck)
Bild: C. H. Beck (Ausschnitt Buchcover)
In der Reihe „Durch!“ schreibt die Schriftstellerin Sofie Lichtenstein Kurzrezensionen zu Büchern, mit denen sie durch ist. In #4 der Reihe geht es um Wahn und Wirklichkeit.

Ein Text von:

Vor rund einem Jahrzehnt – oder vielleicht ist es noch länger her – habe ich es mir zur Gewohnheit gemacht, zu jedem Buch, das ich gelesen habe, eine kleine Besprechung zu schreiben. Sie dient mir vor allem als Erinnerungshilfe, aber auch als Mittel, mir bewusst zu machen, was ich gelesen habe. 

Ich lese Bücher als Autorin und Privatperson, nicht als Feuilletonistin. Meine Kurzrezensionen, wie ich sie unbeholfen nenne, sind daher bloß ungeordnete Gedanken, die ich vor allem für meine Instagram-Follower aufschreibe. Hier auf vliestext finden sie nun auch ein Publikum.

Zuweilen fühlt sich dieser Akt des Nachdenkens und Schreibens wie eine Pflicht an, mit der ich einfach nur „durch“ sein möchte. Zum Glück aber nur zuweilen.

Alle Beiträge der Reihe Durch! finden sich hier.


#4 Annika Domainko: Ungefähre Tage

Ein Krankenpfleger, der bereits seit zwanzig Jahren in der geschlossenen Psychiatrie arbeitet, entwickelt für eine Patientin eine projektive Faszination und überschreitet Grenze um Grenze. In Ungefähre Tage von Annika Domainko geht es nicht nur um Machtfragen, sondern auch um das Spannungsverhältnis zwischen Wahn und Wirklichkeit – etwas abgedroschen, ich weiß.

Obwohl das Buch vergleichsweise kurz ist, habe ich mich bereits nach ungefähr fünfzig Seiten zum Weiterlesen zwingen müssen. Vielleicht, weil ich dem Buch die unglaubwürdige Figurenrede verübelt habe; vielleicht, weil ich den sich wiederholenden Verweis auf die griechische Mythologie sowie auf Queneaus Stilübungen intellektuell verbrämt fand; vielleicht, weil die Figuren blass charakterisiert sind; vielleicht, weil der Übergang zwischen Wirklichkeit und Wahnsinn nicht gerade subtil und raffiniert dargestellt wurde; vielleicht aber auch, weil die Sprache altväterlich daherkommt. Wie man sieht, gibt es einige Gründe, weshalb ich nicht mit dem Buch warm wurde.

Wie man Texte auch spoilern kann

Am unbehaglichsten fand ich jedoch, dass die Autorin die in meinen Augen sehr unglückliche erzählerische Entscheidung traf, die dem Roman zugrundeliegende narrative Programmatik anzukündigen, nämlich an der Stelle, an der die Patientin mit dem Krankenpfleger ein bedeutungsschwangeres Gespräch über Queneaus Stilübungen führt und darauf verweist, dass sich alles wiederhole und jede Geschichte auf unterschiedliche Art und Weise erzählt werden könne. Ja, auch so kann man Texte spoilern. In meinen Augen ein Lektoratsversäumnis, zu dem sich weitere gesellen, etwa der Satz „Er trat die Zigarette mit dem Fuß aus“.

Was man dem Buch zugutehalten könnte, sind die vielen gelungenen Umgebungs- und Wahrnehmungsbeschreibungen – wenn die Autorin es damit nicht ziemlich übertreiben würde. Nicht jedes Detail muss beschrieben werden, nicht jedes Detail ist interessant oder notwendig, damit Form und Inhalt ineinander aufgehen. Long story short: Ich war für diesen Roman offenbar nicht die richtige Leserin. ◆

Annika Domainko: Ungefähre Tage, C. H. Beck, München, 2022.

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Autorin

  • sie/ihr // ist Schriftstellerin, Lektorin und Herausgeberin // 2023 erschien ihr Buch Bügeln – Protokolle über geschlechtliche Handlungen

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